von Manfred und Oliver Trost

Die Bundesrepublik und die USA haben auf dem jüngsten Nato-Gipfel am 10. Juli 2024 in Washington die Stationierung neuer Mittelstreckenraketen bis 2026 in Deutschland angekündigt.

Was sich so „mittelmäßig“  anhört könnte weitreichende Folgen für die Sicherheitsarchitektur des globalen Gleichgewichts haben. Dabei liest sich die gemeinsame Erklärung so knapp, als handele es sich um eine überfällige oder ergänzende sicherheitstechnische Routine. Für Verteidigungsminister Boris Pistorius schließt sich lediglich eine „Fähigkeitslücke“. Tatsächlich sieht die Maßnahme die zukünftige Stationierung von drei konventionellen, landgestützten Systemen, sogenannten Abstandswaffen vor, mit Reichweiten von teilweise über 2500 km:

  • landgestützte Tomahawk-Marschflugkörper (Typhon),
  • Standard Missile 6 (SM-6) in der Ausführung als Boden-Boden-Rakete und
  • die noch in der Testphase befindlichen Hyperschallraketen Dark Eagle.

Alle drei sind Teil der sogenannten Multi-Domain Task Force, eine militärischen Verbandsstruktur der US-Armee, die bereits 2017 eingeführt wurde. Mittlerweile gibt es weltweit fünf solcher Task-Forces, die alle bis 2028 vollständig einsatzfähig sein sollen. Zumindest drei davon fokussieren sich auf den pazifischen Raum. Eine wird seit 2021 von Deutschland aus geführt und dient Operationen der US-Truppen in Europa und Afrika.

Ungewöhnlich erscheint auf den ersten Blick die an den Köpfen der Bevölkerung und dem Rest des NATO Bündnisses vorbei verkündete Stationierung dieser potentiell aggressiven Waffen, was möglicherweise zwar deren Durchsetzung beschleunigen, den Konflikt des Westens mit Russland aber zudem weiter zuspitzen könnte.

Sowohl Deutschland als auch die USA wollen mit dieser Maßnahme nach Meinung des ehemaligen Brigadegenerals Helmut W. Ganser ihr Bekenntnis zur NATO und der Sicherheit Europas unter Beweis stellen[1] (siehe Gastkommentar in der taz vom 16. Juli 2024). Doch bleiben sowohl Fragen zu den tatsächlichen potentiellen Bedrohungen für die NATO wie auch zur Anzahl der geplanten Raketen und die Implikationen aus deren erhöhter Reichweite für Deutschland und Europa bisher ungeklärt.

Nicht überzeugend sind die Argumente, dass es bei diesen Plänen nur um Verteidigung gehen soll. Die bisher in Europa und Asien um Russland herum stationierten Raketen sind nämlich sehr wohl schon jetzt in der Lage, im Zuge einer Verteidigung wichtige operative Angriffsziele in Russland abzudecken, sagt auch Wolfgang Richter in einem Artikel für die Friedrich Ebert Stiftung im Juli 2024[2]. Die geplanten neuen Raketen sollen laut Richter indessen eine signifikant höhere Reichweite als die bisher in Deutschland stationierten landgestützten Raketensysteme der NATO in Europa haben.

Die Risiken dieses Eingriffs in die russischen Sicherheitsinteressen sollten daher unbedingt abgewogen und parlamentarisch diskutiert werden. Helmut W. Ganser sieht in seinem Artikel in der taz die Sicherheit in Deutschland und Europa zu einem größeren Teil bedroht als im Kalten Krieg und spricht von einem instabilen Zustand mit einer prekären Sicherheitslage für die deutsche Bevölkerung durch die Stationierung zusätzlicher Raketensysteme vor Ort.

Der INF-Abrüstungsvertrag, der als Folge des Kalten Krieges zwischen den USA und Russland geschlossen wurde und der landgestützte Raketen verboten hatte, wurde 2019 zunächst von Donald Trump, später dann von Wladimir Putin aufgekündigt. Somit wird, so Richter, nach dem 5. Februar 2026 zum ersten Mal seit den 1960er Jahren eine Lage eintreten, in der keine rechtsverbindliche Vereinbarung einen globalen nuklearen Rüstungswettlauf zwischen den USA und Russland mehr verhindert. Russland hat, anders als beim NATO Nachrüstungsbeschluss von 1979, keine Chance, diese jüngste Entscheidung der Nato abzuwenden. Die Begründung, Russlands Angriffskrieg gegen die Ukraine sei Schuld an dieser Misere, greife angesichts der schwerwiegenden Folgen als Rechtfertigung zu kurz. Eine zu erwartende russische Gegenstationierung nuklearfähiger Raketen setze Deutschland einer erhöhten Gefährdung aus.

Juliane Hauschulz und Xanthe Hall[3] von der IPPNW Geschäftsstelle Berlin kommentieren die Situation in einem Artikel bei „Jacobin“[4] wie folgt:

„Zum ersten Mal seit Ende des Kalten Krieges sollen in Deutschland wieder US-Raketen stationiert werden, die Russland treffen könnten. Dieser Tabubruch hat einen gefährlichen neuen Rüstungswettlauf eingeläutet, der keine Sicherheit, sondern kommende Katastrophen vorbereitet“.


[1] Ganser, Helmut; Mittelstreckenwaffen in Deutschland: Ungeteiltes Risiko; Gastkommentar taz, 16.07.2024; https://taz.de/Mittelstreckenwaffen-in-Deutschland/!6020300

[2] Richter, Stationierung von U.S. Mittelstreckenraketen in Deutschland; Regionalbüro für Zusammenarbeit und Frieden in Europa, Juli 2024, Friedrich Ebert Stiftung;  https://peace.fes.de/e/stationierung-von-us-mittelstreckenraketen-in-deutschland.html

[3] Hauschulz, Hall, Die Stationierung von US-Raketen verschärft die nukleare Bedrohung, 24. Juli 2024 https://www.jacobin.de/artikel/mittelstreckeraketen-atomwaffen-usa-deutschland-nato-gipfel-inf-vertrag

[4] Jacobin, 24. Juli 2024; https://www.jacobin.de/suche?=mittelstreckenraketen