von Claudia Nelgen
Götz Neuneck (Hg.): Europa und der Ukrainekrieg. Chancen und Herausforderungen für eine zukünftige Friedens- und Sicherheitspolitik. Mitteldeutscher Verlag, Halle 2024.
232 Seiten.
Als im Februar 2022 Russland die Ukraine auf breiter Front angriff, begann ein Krieg, der sich ohne eine Analyse seiner Vorgeschichte für Außenstehende als überraschend und unverständlich darstellt. Er hat überdies ein friedenspolitisches Sicherheitsvakuum offengelegt, das gerade in Europa als besorgniserregend gilt.
In dem Sammelband ‚Europa und der Ukrainekrieg. Chancen und Herausforderungen für eine zukünftige Friedens- und Sicherheitspolitik‘ nehmen Militärexperten und Wissenschaftler der Studiengruppe „Frieden und Europäische Sicherheit“ (Vereinigung deutscher Wissenschaftler) in fünf Aufsätzen die Situation unter die Lupe, um, wie es auf dem Cover heißt, „die Komplexität des Ukrainekrieges besser zu verstehen, die öffentliche Diskussion zu versachlichen und realistische Optionen für eine Beendigung des Krieges sowie für eine stabile Nachkriegsordnung vorzubereiten“.
Vorbemerkungen aufgrund der aktuellen Situation
August 2024. Der NATO-Gipfel in Washington liegt erst einen Monat zurück. Auf ihm wurde die weitere umfassende Unterstützung der Ukraine beschlossen sowie die Koordinierung der Waffenlieferungen und der Ausbildung ukrainischer Soldaten von deutschem Boden aus.
Und seit Dienstag, dem 6. August, kämpfen erstmals reguläre ukrainische Truppen offen auf russischem Gebiet. Es handele sich um eine „Vorverlagerung des Krieges in das Gebiet des Aggressors“, so Präsident Wolodymyr Selenskyj (www.faz.net).
Das Aufweichen zuvor propagierter ‚Roter Linien‘ dürfte durchaus als Übergang in einen Krieg gewertet werden, dessen Logik zu einer Ausweitung und schließlich zur Eskalation führen kann. Mit Konsequenzen, die sich dem menschlichen Vorstellungsvermögen entziehen.
In dieser Phase des Kriegsgeschehens den Gefühlen Einhalt zu gebieten, mag nicht immer einfach sein. Wo Gefühle dominieren, fehlt es indessen an sachlicher Analyse. Deren Mangel, so scheint es, ist durchaus opportun, denn er bildet den Nährboden für kognitive Manipulationen. Etwa die der Einstimmung auf einen Krieg, in dem es „die Werte der liberal(-ökonomisch)en Demokratien“ nun mittels der NATO vehement zu verteidigen gilt, auch wenn dies die Ausweitung des Krieges (zunächst) auf den gesamten europäischen Kontinent bedeuten könnte. Die hierzu erforderliche Grundstimmung im Volke muss indessen zuvor hergestellt werden, denn sie ist das Zünglein an der Waage.
Buchempfehlung „Europa und der Ukrainekrieg“
Wer sich so nicht abspeisen lassen mag, wer seine Kenntnisse betreffs dieses Krieges vertiefen möchte und wem außerdem daran gelegen ist, das Thema rational anzugehen, um zu einem entsprechend nüchternen Verständnis der Lage zu gelangen, dem sei das Buch ‚Europa und der Ukrainekrieg‘ zutiefst empfohlen. Es erschien im Frühjahr 2024, die oben genannten Entwicklungen sind also darin noch nicht enthalten. Das ist dem Inhalt nicht abträglich. In kenntnisreichen Abhandlungen wird von Rüdiger Lüdeking (Ex-Botschafter bei der OSZE) und Wolfgang Richter (Oberst a.D. und Associate Fellow beim Genfer Zentrum für Sicherheitspolitik) die Vorgeschichte dieses Krieges analysiert, seine Stellung innerhalb einer übergeordneten geopolitischen Konfliktlage, die beiderseitigen politischen und militärischen Vorbereitungen auf einen militärisch auszutragenden Konflikt (mit ‚beiderseitig‘ sind der Westen und Russland gemeint), die Rolle von politischen, psychologischen und militärischen Fehleinschätzungen, die Gründe für das Scheitern von Waffenstillstandsverhandlungen, den operativen Verlauf der Kriegshandlungen und das bisherige Münden in einen Abnutzungskrieg. Hierbei wird in seinem ganzen Umfang offensichtlich, dass es nicht allein über eine höchst ambivalente Politik des Westens gegenüber Russland nachzudenken gilt, sondern auch über die seitens der USA aktiv vorangetriebene und damit gewollte Konfrontation. Der von Russland begonnene Krieg gegen die Ukraine wird damit durchsichtiger, die Gemengelage entzerrt.
Wohlgemerkt wird an keiner Stelle der Lektüre Russlands Vorgehen als gerechtfertigt erörtert. Doch wer nach Schuldzuweisungen respektive moralischen Entlastungen sucht, wird hier (und auch in den anderen Beiträgen) nicht fündig. In einer Analyse, die auf Objektivität abzielt, hat dergleichen auch nichts zu suchen.
Ein weiteres Thema ist die Sanktionspolitik, bearbeitet von Hans-Jochen Luhmann (u.a. Senior Expert am Wuppertal Institut für Klima, Umwelt und Energie). Am Beispiel von Europas ‚Energieembargo‘ zeigt er auf, wie zweischneidig der Einsatz von Sanktionen als Kampfmittel ist – ein Kampfmittel freilich, das unabhängig von militärischen Einsätzen verwendet werden kann und direkt auf die Schwächung der Wirtschaft des Gegners abzielt. Doch in einer Welt, in der die ökonomischen Verflechtungen maximiert wurden, erweist sich dergleichen schnell als Bumerang, und schlimmer: es gibt erhebliche Kollateralschäden nicht nur im eigenen Land, sondern auch in unbeteiligten Drittländern. Entsprechende Bilanzen, die das Ausmaß dieser Schäden aufzeigen, fehlen indessen.
Der Autor bemängelt zudem, dass Sanktionen, wenn schon angewendet, nicht (mehr) als friedensstiftendes Mittel eingesetzt würden. Vielmehr seien sie als ‚gerechtes‘ Abstrafen angelegt, was ihre Rejustierung schwierig mache und womit sie ihre potentiell friedensstiftende Funktion einbüßten. Dies ist ein berechtigter, aber nicht ausreichender Einwand. Denn ehrlicherweise hätte hier noch darauf hingewiesen werden können, was Sanktionen eben auch sind: nämlich Erpressung mit staatlichen Mitteln. Was sie automatisch frei spricht von jedem Ansinnen, auf Augenhöhe mit dem Kontrahenten verhandeln zu wollen.
Welche Möglichkeitsräume verbleiben angesichts einer Welt, in der sich die geopolitischen und geoökonomischen Konflikte in verheerender Weise zuspitzen und Kriege erneut zum probaten Mittel ihrer Austragung geworden sind? Einer Welt, in der alle bisherigen konstruktiven Schritte der nuklearen und konventionellen Rüstungskontrolle nahezu vollständig erodiert sind und Vormachtansprüche alte, freilich nie verschwundene Systemrivalitäten mit neuer brachialer Gewalt aufreißen lassen?
Mit diesen Fragen setzt sich Helmut W. Ganser (Brigadegeneral a.D., u.a. Dozent für Strategie an der Führungsakademie der Bundeswehr) auseinander. Er analysiert die derzeitigen militärischen und ökonomischen Kräfteverhältnisse und rückt die tiefe Gegnerschaft zwischen den USA und China ins Blickfeld. Europa, im Mittelfeld eines neuen Kalten Krieges, befindet sich damit in einer prekären Lage. Wie in dieser Gemengelage einen Kurs finden, der Auswege aufzeigt?
Ganser spricht sich für eine Stärkung Europas in der NATO aus und hebt die Notwendigkeit einer wachsenden sicherheitspolitischen Autonomie der EU hervor. Er betont speziell Deutschlands enormen Beitrag zur NATO und seine Position als zentrale geographische Drehscheibe. Gleichzeitig verdeutlicht er, welch ein enorm zerstörerisches Potential in der von der NATO betriebenen Abschreckungspolitik steckt. Die Gefahr einer nuklearen Eskalation war womöglich nie höher als in der Gegenwart. Bekannt ist, dass Russland wiederholt mit dem Einsatz von Kernwaffen gedroht hat und im Zuge des Ukrainekriegs in Belarus Kernwaffen stationiert hat. Bekannt ist auch, dass im Pentagon der Einsatz von sehr zielgenauen Atomwaffen mit relativ kleinen Sprengköpfen, die sich sowohl gegen Russland als auch China richten, in Computersimulationen durchgespielt wird. Das gleichzeitige Postulat, damit werde Abschreckung glaubwürdiger, hält Ganser für fragwürdig. Vielmehr ist davon auszugehen, dass im neuaufgeblühten ‚Denken in Kriegsführungsstrategien‘ sowohl im Westen als auch im Osten der konkrete Einsatz von Nuklearwaffen eine maßgebliche Rolle spielt.
In mehreren Kapiteln erweitert Ganser den Blick auf diese Tatsache und erörtert die Möglichkeiten, realpolitische Wege aus dieser letztlich die Menschheit in ihrer Existenz bedrohenden Entwicklung zu finden. Er weist darauf hin, dass es, selbst wenn es nicht zu einer nuklearen Eskalation komme, die Friedens- und Sicherheitsordnung nachhaltig zerstört sei und es nun zuvorderst darum gehen müsse, diese wieder zu reinstallieren. Hierbei gelte es, Abstriche „am universalistischen eigenen Wertekanon“ zu machen und wieder den Willen zum Kompromiss und Interessenausgleich aufzubringen.
Dass dies bestenfalls ein Fernziel sein kann und wie weit die derzeitige Politik davon weg ist, ist ihm selbst klar. So rühmlich Gansers Bemühungen sind, den irrwitzigen Entwicklungen in dieser Welt eine Perspektive abtrotzen zu wollen, so beharrlich greift er in seinen Ansätzen immer wieder in die Werkzeugkiste mit jenen Strategien, die er zuvor als gescheitert entlarvt hat … – gescheitert jedenfalls, sollte das Ziel die Gewährleistung von Frieden und Sicherheit gewesen sein. So bleibt die NATO, deren maßgeblicher Beitrag zum Konfrontationskurs – wie von Lüdeking und Richter aufgezeigt – zwischen dem Westen und Russland nicht mehr zu bestreiten ist, in Gansers Überlegungen als maßgeblicher Stützpfeiler westlicher Politik erhalten. Die unlösbaren Widersprüche, die sich daraus ergeben, fallen ihm zwar auf. Doch folgt er den sich aus seiner Analyse ergebenden Hinweisen auf die Untauglichkeit klassischer politischer und militärischer Mittel nicht.
Angesichts des die Lebensbedingungen ohnehin schon stark beeinträchtigenden Klimawandels nach einem vernünftigen Ausweg aus dem Krieg zu suchen, ist auch das Anliegen von Jürgen Scheffran (em. Professor für Integrative Geographie der Universität Hamburg) im letzten Beitrag des Buches. Er kritisiert den Begriff der ‚Zeitenwende‘, mit dem suggeriert werde, es gelte einen Weltordnungskonflikt zwischen Demokratie und Autokratie auszutragen. Indessen weist auch seines Erachtens alles darauf hin, dass der Krieg nachvollziehbar das Ergebnis einer Verdichtung von zahlreichen politischen Fehlentwicklungen und Krisen der letzten Jahrzehnte ist, wobei die Ukraine, an der Schnittstelle zwischen Russland und dem Westen gelegen, schlicht von sehr hohem geopolitischem Interesse sowohl für den Westen als auch für Russland ist.
Inzwischen habe der Krieg eine Dynamik erreicht, die schwer zu stoppen sei, konstatiert Scheffran. Um die enormen Kosten und Opfer auf beiden Seiten zu begründen, steige beidseits der Druck, den Krieg gewinnen zu müssen, und dies mit immer weniger Rücksicht auf Verluste.
Doch selbst wenn eine Beendigung dieses Krieges erreicht werden könne: die internationale Sicherheitslandschaft trage auf jeden Fall schwere Schäden davon. Schon jetzt habe der Krieg zu einer massiven Aufrüstung in den direkt oder indirekt beteiligten Staaten geführt, was weitere geopolitische Machtkämpfe begünstige. Und nicht zuletzt sei er auch in ökologischer wie sozialer Hinsicht ein Desaster. Scheffran rückt ganz klar die Weltlage mit ihren diversen verheerenden Entwicklungen und ‚multiplen Krisen‘ in den Fokus seiner Überlegungen und fordert anstelle geopolitischer Machtkämpfe eine globale Sicherheitsarchitektur.
Die hierzu von ihm vorgeschlagenen Strategien lassen indessen neue Denkansätze vermissen. Werden hier nicht wieder genau jene Instrumente in die Pflicht genommen, so ließe sich fragen, deren kleinteilige und kurzfristige Erfolge den Blick vom realen Konfrontationskurs ablenken? Wird mit ihnen die Auseinandersetzung mit den tatsächlichen Ursachen unserer hochgradig prekären Realität nicht eher verhindert? Eben diese Auseinandersetzung und ihre Resultate aber wären dringend nötig, um eine global-dauerhafte Sicherheitsarchitektur zu schaffen.
Insgesamt kann gesagt werden:
Der Anspruch der Autoren ist es, aufgrund ihrer Analysen die Eckpfeiler einer künftigen Sicherheitsordnung zu definieren. Und in der Tat wird die Entwicklung bis zum Ausbruch des Ukrainekrieges konsequent verfolgt und dabei aufgewiesen, was alles zum Scheitern des Friedens beigetragen hat. Ausgezeichnet. Welche Rückschlüsse Russlands Überfall auf die Ukraine nun aber betreffs der verwendeten Strategien tatsächlich erlauben, bleibt außen vor. Eben noch wird konstatiert, wie präventive Diplomatie sowie militärische und ökonomische Machtmittel elendiglich darin versag(t)en, den Frieden zu erhalten bzw. auch nur ein halbwegs vernünftiges Miteinander auf diesem Planeten zu gewährleisten, um im nächsten Schritt zu fordern, dass es eben dieser Mittel bedürfe, um wieder zu Frieden zu gelangen.
Dies irritiert auch angesichts der Tatsache, dass konventionelle politische und militärische Strategien auf ein langfristiges Taktieren, Ab- und Vortasten und auf Manipulation angelegt sind (siehe Abschreckung, Erweiterung und Vervielfachung von Stützpunkten, Sanktionen etc.), um ihre Zwecke durchzusetzen. In Anbetracht des Klimawandels und der sich rasch fortsetzenden Zerstörung von Überlebensbedingungen und -räumen bleibt jedoch schlicht keine Zeit mehr, um auf diese Weise zu irgendeiner Form von ‚Ordnung‘ zu gelangen.
Eine andere, fast unerhörte und doch sich infolge der Lektüre aufdrängende Frage ist die nach dem Frieden als Zweck der Politik. Wenn x Chancen für ein geregeltes, friedfertiges Miteinander vertan werden, wie dies nach der Wende 1989 der Fall war, wenn im Gegenteil ein taktischer Schritt nach dem anderen hin zu einer massiven Konfrontation erfolgt, und dies bereits eben seit jener Wende, kann dann noch davon die Rede sein, dass der Frieden das eigentliche Ziel der Politik sei?
Eine solche Schritt-für-Schritt-Politik hin zu einer kriegerischen Konfrontation kann derzeit wieder im Indopazifik beobachtet werden, wo der Kampf um die zukünftige politische und ökonomische Vormachtstellung zwischen den USA und China ausgetragen wird. Es wäre der blanke Hohn, hier vom Ausschöpfen friedenschaffender Möglichkeiten zu sprechen. Dasselbe im Nahen Osten. Die Ziele sind andere, nicht der Frieden, nicht das Wohlergehen der Menschen in dieser Welt und erst recht nicht die Rettung der Natur.
Es wäre sicherlich von Vorteil, sich dies vor Augen zu halten, um nicht immer wieder auf völlig anders klingendes Gesäusel hereinzufallen.
Wie schwierig es ist, auch nur gedanklich die tiefen Barrieren zu überwinden, die zwischen Ost und West, aber auch West und Süd herrschen, und tatsächlich neue Handlungsräume zu erschließen, dafür ist dieses gut recherchierte, nüchtern aufklärende, aufschlussreiche und engagierte Buch ein gutes Beispiel. Denn es reicht nicht aus, eine fatale Situation zu benennen, und auch nicht, die diversen Schritte aufzuzeichnen, die zu ihr geführt haben (wiewohl dies gute Arbeit ist). Was nottut, ist das Aufdecken der ihr zugrundeliegenden Ursachen, und die liegen in einer Welt’ordnung‘, deren ökonomische und geopolitische Verfasstheit für ein Höchstmaß an Rivalität sorgt und in der das Gegeneinander systemisch organisiert ist.